Eine andere Welt
Wir laufen mitten durch einen der größten Slums in Nairobi, Kenia. Wir könnten auch auf dem Mars sein, oder mit Jules Verne am Mittelpunkt der Erde – es würde uns nicht fremder und unwirklicher scheinen als das, was wir hier sehen und erleben.
Die ersten Stunden in Kenia sind für uns bisher nicht sonderlich weit gereiste Europäer schon wie eine andere Welt. Überall stehen wir als Weiße sofort im Mittelpunkt des Interesses, wir verstehen die Sprache nicht, die Kultur ist fremd, es riecht anders, schmeckt anders, Wasser darf der Gesundheit wegen nur aus fest verschlossenen Flaschen getrunken werden, vor meinem Hotelzimmer turnt ein Affe durch die Bäume … Unglaublich spannend und ebenso herausfordernd.
Mit Eintritt in den Slum sind diese Andersartigkeiten aber kaum noch der Rede wert, bestenfalls Peanuts. Wir betreten eine andere Welt. Hütte reiht sich an Hütte, oft windschief, meist aus Wellblech. Klein, ein Raum ohne Fenster. Mit vielen Bewohnern. Menschen, die nie wissen, ob sie genug Geld für wenigstens eine Mahlzeit am Tag zusammenbekommen. Die ohne fließendes Wasser, Strom, Toiletten etc. in grässlichen Bedingungen in diesem Slum leben. Nicht nur einmal denke ich: Wenn ich so leben müsste, ich hätte die Kraft gar nicht, morgens wieder aufzustehen und mich dem Kampf ums Überleben an diesem menschenunwürdigen Ort neu zu stellen.
Aber dort sind ganz viele Menschen, die das schaffen. Die Hoffnung haben, Lachen können, ihr bisschen Leben in die Hand nehmen und einfach das Beste daraus machen. Die eine Würde und Lebensfreude ausstrahlen, wie ich es selten erlebe. Ich habe die große Ehre, einige dieser unglaublich beeindrucken Menschen ein klein wenig kennen lernen zu dürfen. Bewohner des Slums und Mitarbeitende aus der Kirche, die sich vor allem um die Kinder, die hier leben müssen, bemühen.
Heikos Dusch-Erkenntnisse
Nach einem Tag im Slum bin ich dreckig, staubig, habe den furchtbaren Gestank, der dort herrscht, in der Nase. Ich will nur noch eins: duschen.
Während ich in meinem Hotelzimmer unter der Dusche stehe, durchfährt mich auf einmal eine Erkenntnis in kaum zu überbietender Deutlichkeit:
„Mein Bad in diesem Hotelzimmer ist größer als die Hütte, in der die Menschen, die ich heute kennenlernen durfte, mit ihrer ganzen Familie leben. Und es ist besser ausgestattet. Ich habe alles hier. Strom, fließendes Wasser, eine Toilette … Das alles gibt es im Slum nicht.
Und ich A… wage es unzufrieden zu sein, mich in meiner Freiheit beschnitten zu fühlen, weil ich mit dieser oder jener Kleinigkeit in meinem Leben nicht 100 % zufrieden bin? Ich habe überhaupt nicht das Recht dazu. Dafür geht es mir viel zu gut. Ich habe doch alle Möglichkeiten – ich muss nur aus dem Quark kommen und sie auch nutzen. Wenn ich mir die Menschen aus dem Slum noch einmal vor Augen führe, muss ich sogar sagen: Es ist meine Pflicht, meine Möglichkeiten zu nutzen und sie nicht verstreichen zu lassen. Meine große Freiheit will gelebt werden – und genau das will ich ab jetzt tun!“ Heikos Duschmanifest im Januar 2020 in Nairobi, Kenia
Darum bemühe ich mich seitdem – und lerne es ganz neu zu schätzen, wie viele Möglichkeiten wir in Europa haben, wie viel Freiheit es für uns gibt.
Freiheit geht eigentlich ganz einfach
Abendessen im Hotel. Wir treffen Jennifer Gitiri; aufgewachsen in dem Slum, den wir heute besucht haben. Als Kind gebeutelt von extremer Armut und entmutigt von fehlender Perspektive. Aber dann passiert etwas in Jennifers Leben, das einen Unterschied macht. Das ihre Welt verändert. Die Kirche vor Ort unterstützt sie im Rahmen einer Kooperation mit dem Hilfswerk Compassion, hilft ihr und der Familie. Jennifer kann die Schule besuchen und wird gefördert. Die Mitarbeitenden entdecken ihr Potential und ermöglichen es ihr, zu studieren.
Heute ist Jennifer eine der Top-Anwältinnen Kenias und arbeitet für die Regierung. Sie steht für Gerechtigkeit im Land ein und hilft denen, die sich nicht selber helfen können. Sie ist gebildet, witzig und herzlich. Wir haben eine tolle Zeit beim Abendessen.
Später liege ich im Bett und denke über den Tag nach. Dabei durchzuckt mich ein Gedanke, der eigentlich auf der Hand liegt: Wäre Jennifer nicht gefördert und unterstützt worden, sie würde heute noch im Slum leben. Hätte die Kirche nicht in sie investiert, müsste sie täglich um ihr Überleben kämpfen. Mannomann, was würden wir verpassen – was würde der Welt entgehen. In dieser Frau steckt so viel Potential Menschen zu ermutigen, Kenia zu helfen und die Welt zu inspirieren … Ohne die Freiheit zu studieren, sich weiterzuentwickeln, und das Gefühl, wertgeschätzt zu werden, würde all das unter dem Kampf um wenigstens eine Mahlzeit am Tag verschüttet liegen. Was für eine Schande!
Es gibt Millionen von Kindern, die aufwachsen wie Jennifer. Ohne Perspektive. Wie viele geniale Staatsleute, Erfinderinnen, Weltgestalter, Künstlerinnen usw. mögen wohl in ihnen stecken, deren Potential nur darauf wartet freigesetzt zu werden? Wie viele Chancen, aus unserer Welt eine bessere für uns alle zu machen?
Und alles, was dafür nötig ist, ist dass wir uns ineinander investieren. Dass die mit vielen Möglichkeiten und großer Freiheit sich für die einsetzen, die das nicht haben. Eigentlich ganz einfach, oder?
So oder ähnlich auch erschienen auf momente.media, in L2205, Stiftung Marburger Medien und als „Freiheit gelernt in Afrika“. In: Weiss, Andi (Hg.). 2022. Gerth Medien: Asslar.
Weitere Veröffentlichungen.